Die Abtei Fraumünster
Ob der Vision ihrer Töchter Berta und Hildegard wegen oder nicht – im Jahr 853 stifteten König Ludwig der Deutsche und seine Frau Hemma die Fraumünster-Abtei. Der König übergab die Abtei der Prinzessin Hildegard als erste Äbtissin. Er betrachtete sie als souverän, ihn als König in politischen und wirtschaftlichen Bereichen zu vertreten. Da ein Kloster für die Ewigkeit gedacht und gebaut wurde, die Zukunft aber ungewiss war, verlieh der König Hildegard und allen zukünftigen Äbtissinnen die Immunität. Er sorgte für eine solide wirtschaftliche Basis, indem er ihnen Besitz in Form von Land und Leuten vermachte und sie mit den grundherrschaftlichen Regalien, den königlichen Rechten, ausstattete. Hildegards Schwester Berta trat die Amtsnachfolge dieses Start-up 857 an. Nach ihr folgten 27 weitere Äbtissinnen – das war der Anfang einer 671-jährige Erfolgsgeschichte von Frauen in Zürich.
Als Richtlinie für die Organisation bestimmte der König die Benediktus-Regel. Auf deren Werten basierend gestalteten die Äbtissinnen und der Konvent mit 13 Nonnen 671 Jahre lang, von 853 bis 1524, die Entwicklung der Grossregion Zürich.
Das Fraumünster war die Kirche des Benediktinerinnen-Klosters Sankt Felix und Regula im Rang einer königlichen Abtei, der Äbtissinnen vorstanden. Auf dem Platz Zürich waren sie Stellvertreterinnen der politischen und wirtschaftlichen Interessen der römisch-deutschen Könige. Die Äbtissinnen empfingen jeweils im Geleit von Zürcher:innen den König auf dem Münsterhof – eine Inszenierung im öffentlichen Raum, die auf die Macht verweist. Diese bemerkenswerte Position der Äbtissinnen manifestierte sich 1263-1310 im Bau der zwei kräftigen Türme des Münsters.
Die Äbtissinnen übten schon damals eine herrschaftliche Tätigkeit aus, ähnlich wie heutige Direktorien von Nationalbanken. Nebst dem Regieren einer Stadt leiteten sie jene Institution, die das alleinige Recht hatte, Münzen herauszugeben, die als gesetzliches Zahlungsmittel akzeptiert wurden, die «moneta de Thurego». Der Herrschaftsraum der Äbtissinnen entsprach dem Währungsraum – und umgekehrt. Ausserdem waren die Äbtissinnen auch verantwortlich für die Verwaltung des Abteibesitzes. Dazu gehörten die Stadt Zürich, nebst Sakralbauten auch Ökonomiegebäude, Betriebe und Güter in den heutigen Kantonen Zürich, Aargau, Thurgau, Uri, Bern und im Elsass. Ihr Job war mit der kirchlichen und weltlichen Politik verbunden – lokal, regional, international.
Zudem, wie aus der Übergabeurkunde ersichtlich wird: «(…) auf Freiheitsbriefe, Zinsbriefe, und auf schriftlich verfasste Urbare, Rodel und auf die Register über alle Zinsen, Zehnten, Nutzungsrechte, Einkünfte, Amtsleute, Dörfer und Höfe und Amtsrechte und auf alle Ansprüche, die diese Urkunden, Urbare, Rodel und Register beinhalten, so wie alles bezeichnet und beschaffen ist, Kleines und Grosses (…)» (Zitat aus der Übergabeurkunde. Transkription und Übersetzung © David Mache).
Intern umfasste der Job der Fürstäbtissinnen die Leitung das Kloster und des Konvents bestehend aus konstant dreizehn Nonnen von Mittel- und Kleinadel. Sie sorgten für deren materielles und spirituelles Leben im Rahmen der Benediktus-Regel. Zudem waren sie die Vorgesetzten von sieben Klerikern, Chorherren des Grossmünsters (Lateinlehrer und Juristen), Schulmeister wie Oswald Myconius, ungefähr 30 internen Dienstleuten und mehr als 800 Eigenleuten auf den Gütern der Abtei. Bis 1524 regierten die Äbtissinnen in Zürich und auf ihrem Besitz durch bemerkenswerte Macht. Staatstragende Entscheide wie Verfassungsänderungen, neue Gesetze sowie die Geld- und Währungspolitik galten nur mit Unterschrift der Äbtissin. Mit der Renaissance und dem Humanismus kamen neue Konzepte von politischer Partizipation von Stadt- und Landbevölkerung aller Gesellschaftsschichten auf – und der Führungsstil der Äbtissinnen wurde zunehmend konsensual.
Äbtissinnen
Von 853 bis 1524 waren die Äbtissinnen Politikerinnen und Managerinnen. Die Benediktinerinnen vertraten die Interessen der Könige und der Päpste. Dazu gehörte das Teilen von Herrschaft mit dem Zürcher Rat und das Aushandeln von politischen Kompromissen. Als Managerinnen kontrollierten sie Handels- und Immobiliengeschäfte, stützten die regionale Wirtschaft mit einer möglichst stabilen Währung. Der grosse Abteibesitz machte sie zu wirkmächtigen Marktteilnehmerinnen.
In der Geschichte der Fraumünster-Abtei von 853 bis 1524 kennen wir die Namen von 29 Äbtissinnen. Bis ungefähr 1050 stammten sie aus der jeweiligen Königsfamilie, später aus Familien von Grafen aus Luxemburg und Tirol, und ab ungefähr 1210 kamen sie aus Familien von Freiherren mit Sitz auf Burgen in den heutigen Kantonen Zürich, Thurgau, Schaffhausen, Luzern, Solothurn.
853–856
Prinzessin Hildegard
Tochter von König Ludwig der Deutsche und Königin Hemma
857–877
Prinzessin Berta
Tochter von König Ludwig der Deutsche und Königin Hemma
878–ca. 900
Richarda, Kaiserin
Frau von König Karl III
893–913
Kunigunde, Königin
Frau des ostfränkischen Königs Konrad I
929
Gisela
Herkunft unbekannt
929–958
Reginlinde, Herzogin
Frau des Herzogs von Schwaben
980–995
Uta von Schwaben
Herkunft unbekannt
995–1030
Ermentrudis von Luxemburg, Gräfin
Schwägerin von Kaiser Heinrich II
1037 bis nach 1045
Irmgart
Herkunft unbekannt. Sie steht unter dem Schutz von Kaiserin Agnes von Poitou
1070 bis nach 1080
Hedwig von Wolhusen
Frau des Ritters Seliger von Wolhusen, Abt von Einsiedeln
1135 bis nach 1160
Mechthild von Tirol, Gräfin
Tochter des Grafen Adalbert I. von Tirol
1210–1212
A.
Name und Herkunft unbekannt. Sie wurde als Äbtissin abgesetzt
1218–1221
Gisela von Spiegelberg, Freiherrin
1222–1224
Adelheid von Murkhart, Freiherrin
1229–1254
Judenta von Hagenbuch, Freiherrin
1255–1255
Elisabeth von Schneckenburg, Freiherrin
1255–1269
Mechtild von Wunnenberg, Freiherrin
1270–1298
Elisabeth von Wetzikon, Freiherrin
1298–1308
Elisabeth von Spiegelberg, Freiherrin
1308–1340
Elisabeth von Matzingen, Freiherrin
1340–1358
Fides von Klingen, Freiherrin
1358–1398
Beatrix von Wolhusen, Freiherrin
1398–1404
Anna von Bussnang, Freiherrin
1404–1412
Benedikta von Bechburg, Freiherrin
1412–1429
Anastasia von Hohenklingen, Freiherrin
1429–1484
Anna von Hewen, Freiherrin
1484–1487
Sibylla von Helfenstein, Gräfin
1487–1496
Elisabeth von Weissenburg, Freiherrin
1496–1524
Katharina von Zimmern, Freiherrin
Mächtige Frauen
Die Äbtissinnen der Fraumünsterabtei hatten strategische Ziele: Sie wahrten die politischen und wirtschaftlichen Interessen des jeweiligen Kaisers oder Königs im südwestlichen Schwaben. Ihr Auftrag: Die Kontrolle über politische Prozesse ausüben und das Abteigut verwalten und vergrössern. Zur Umsetzung standen ihnen Kapital und Regalien zur Verfügung. Das heiss, sie konnten den umfrangreichen Besitz nutzen und von den exklusiven königlichen Rechten (Regalien) profitieren. Die Äbtissinnen hatten mit dem jeweiligen deutsch-römischen König einen Vertrag. Darin wurden sie als «Säule des Reichs» bezeichnet. Und damit waren sie als Stellvertreterinnen des Königs investiert. Sie entschieden über Recht und Verfassung und kontrollierten die regionale Volkswirtschaft. Der Hauptsitz des Unternehmens war das Fraumünster-Kloster in Zürich. Sie wirkten von 853 bis 1524 – also 671 Jahre lang!
Die Äbtissinnen verpachteten den Abteibesitz an Bürgerinnen und Bürger, die auf dem geliehenen Gut Güter produzieren und damit Vermögen bilden konnten. An der Bewirtschaftung zu partizipieren lag im Interesse der Bevölkerung. Der volkswirtschaftliche Effekt eines nutzbaren, grossen Besitzes, kombiniert mit Geldwertstabilität, war wirtschaftliche Stabilität. Die Aufgabe der Äbtissinnen als Verwalterinnen des grossen Abteibesitzes verband sich mit ihrer Funktion als Besitzerinnen der Münzrechte. Diese bestimmten wichtige volkswirtschaftliche Grössen wie Zins, Inflation und Währung.
Als Führungsverantwortliche oder «CEO» der Fraumünsterabtei folgten die Äbtissinnen der Benediktusregel. Diese gilt bis heute als Handbuch und Leitbild des Benediktinerordens: Die Äbtissinnen sollen auf den Rat der Nonnengemeinschaft hören, masshalten und Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden. Sie sollen vorausschauen, umsichtig und angemessen handeln, sowohl in geistlichen wie auch in weltlichen Belangen. Dafür brauche es Stabilität, aber auch Flexibilität in der Auslegung der Regel. Sie sollte an die Gewohnheitdes Standortes eines Klosters und der jeweiligen Zeit angepasst sein. Eine Äbtissin hatte die Vollmacht zu entscheiden und zu handeln.
Katharina von Zimmern
Katharina von Zimmern (1478-1547) wurde als viertes Kind von Freiherr Werner von Zimmern und Gräfin Margarethe von Oettingen 1478 in Messkirch (Deutschland, Baden-Württemberg) geboren. Da ihre Familie flüchten musste, kam Katharina von Zimmern nach Weesen am Walensee. Dort lernte sie den sechs Jahre jüngeren Huldrych Zwingli kennen, den späteren Leutpriester und Reformator Zürichs, der nebenan bei seinem Onkel Bartholomäus wohnte.
Als 18-Jährige nahm Katharina von Zimmern die Wahl zur Äbtissin des Fraumünsters an und sollte diese Funktion fast 29 Jahre lang ausüben. Sie nahm dieses Amt in einer Zeit an, in der neue Visionen aufgekommen waren. Seit der Renaissance und durch den Humanismus (Erasmus von Rotterdam) waren den Zürcher:innen zu den bisherigen Konzepten wie «Allmenden/Commons» auch proto-demokratische Konzepte wie «Ekklesia/Synagoge» und «Polis» vorgedrungen. Zudem relativierten Übersetzungen der alttestamentlichen hebräischen und neutestamentlichen griechischen Schriften institutionalisierte sakrale Hegemonie.
Am Vorabend der Reformation waren die Zeiten kritisch geworden – und Proteste aufgekommen. Dass die Äbtissinnen über 200 Jahre die Steuersätze kaum erhöht hatten, genügte dem volkstümlichen Materialismus nicht mehr. Mit dem Aufkommen von Banken und Handelsplätzen auf neu entdeckten Kontinenten waren neue Möglichkeiten der Partizipation aufgekommen – an der Gestaltung der Gesellschaft, an der Gestaltung der Politik, Wirtschaft und Religion. Die neuen Visionen und Argumente führte selbstermächtigten Akteur:innen mit zu selbstbestimmten Agenden.
Die beunruhigten Menschen übernahmen die Argumentation der Reformator:innen: humanistisch-universalistisch. Die 47-Jährige war «mit ihrem Latein am Ende». Denn Königtum und Papsttum waren in eine grundlegende Krise geraten – die königlichen Rechte hatten an Wirksamkeit verloren. Religion und Glaube waren nicht mehr unangefochten – und sogar die Orden, die Konkurrenz, waren es nicht meht. Dass in Staat, Kirche und Gesellschaft Reformen anstanden, muss Katharina von Zimmern erkannt haben, mehr noch: dass das ganze System und seine Institutionen vor einer Zeitenwende standen.
Durch Zwingli muss sie von der Avantgarde in seinem Team (Orientalisten, Gräzistik, Judaistik, Arabistik) am Grossmünster erfahren haben. Darunter ein Hebräischlehrer, der jüdische Arzt Mosche von Winterthur und der Lehrer für orientalische Sprachen Theodor Bibliander. Dieser edierte beispielsweise die lateinische Übersetzung des Korans von Robert von Ketton aus dem Jahr 1143, um sie 1543 mit dem Buchdrucker Johannes Oporonius in Basel zu publizieren.
Katharina von Zimmern kannte die kritischen Schriften der zeitgenössischen Geistlichen zum Fastenstreit und zum Abendmahl, zum Beispiel von Heinrich Engelhard, Kleriker am Fraumünster und Leo Jud, Kleriker am St. Peter. Sie setzte kirchliche und gesellschaftliche Reformen durch und hielt das Fraumünster für gesellschaftlich relevante Diskussionen – Disputationen – offen.
Was in der Kindheit und Jugend mit persönlicher Verbundenheit begann, mündete im Erwachsenenalter in einen theologischen Dialog. Zwingli schenkte ihr die 1523 im Froschauer Verlag erschienene Schrift „Von menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit“ mit einer persönlichen Widmung 1524. Katharina von Zimmern liess sich davon dazu bewegen, den neuen Visionen des 16. Jahrhunderts eine Chance zu geben.

Dass die Zürcher Reformation nicht als Kaperung in die Geschichtsschreibung einging, dazu gab die Fürstäbtissin Katharina von Zimmern den entscheidenden Dreh. Als sie am 30. November, ihre Abtei schloss, um sie am 8. Dezember, samt allem Hoheits- und Herrschaftsrechten dem Rat von Zürich zu übergeben, endete ihre fast 29-jährigen Karriere.
Mit der Übergabe agierte auch die 47-Jährige selbst von jeglichen Strukturen emanzipiert – was sie zu einer wahren Reformatorin macht. Sie hatte entschiedenen, ohne jemanden zu fragen, weder ihren einzigen Vorgesetzten (König) noch ihre Familie. Deciso blieb sie aber auch bei ihrer Vision, der Vision der Berta und Hildegard: Katharina von Zimmern wurde nie reformiert. Ihre souveräne Entscheidung führte zur Aufgabe ihres Berufes, aber nicht zur Negierung ihrer Berufung. Der Verlust ihrer politischen und religiösen Souveränität als Frau – gehörte zur Vision des bürgerlichen Lebens, das mit der Reformation den freien Menschen versprach.
Mit der Schliessung und Übergabe der Fraumünster-Abtei samt allen königlichen Rechten (Regalien) an den Zürcher Rat konnten Reformen umgesetzt werden, welche die Entwicklung eines heutigen Grossraumes Zürich vorwegnahmen.
Das Start-up 853 von Berta und Hildegard war 1524 zu einem Jump-start geworden – in den Händen des Zürcher Rates und ihres Reformators Huldrych Zwingli: «So dass sie [Anm.: Ratsherren und Bürger:innen] und ihre Nachkommen zu allen Zeiten das Gotteshaus, die Privilegien, die Pachturkunden und andere Urkunden, Urbare, Rodel und Register, Amtsleute und Amtsrechte, Leute und Dörfer und Höfe samt und sonders in Besitz nehmen und nach ihrem Willen und Belieben verwalten und Personen ein- und absetzen und anwerben sollen und können, wie sie es vor Gott dem Allmächtigen verantworten» (Zitat aus: Übergabeurkunde vom 8. Dezember 1524. Foto © Stadtarchiv Zürich. Transkription und Übersetzung © David Mache)
Nach der Gestaltungskraft wirkmächtiger Frauen war jetzt die Gestaltungskraft wirkmächtiger Männer gefragt. Im Protokoll des Rates von Zürich steht, Katharina von Zimmern habe getan, was Zürich lieb und dienlich sei – eine Referenz an den Propheten Jeremia 29,7 – und die Übersetzungsleistung Zwinglis und seines Kollegiums: «Und sucht das Wohl der Stadt, in die ich euch ins Exil geführt habe, und betet für sie zu Gott, denn in ihrem Wohl wird euer Wohl liegen.»
Durch Katharina von Zimmern war es 1524 nicht zur Kaperung Zürichs gekommen und auch nicht zu bürgerkriegsähnlichen Konflikten oder Bauernkriegen wie anderswo in Europa gekommen. Der Kappeler Krieg begann erst 1529.